Estland

Entschleunigen in Estland

Achtung, diese Reportage kann Ihren Appetit anregen. Denn das kleine Land am Finnischen Meerbusen verführt mit erstklassigen Zutaten zum entspannten Genuss: Traumstränden, Natur à discretion und einer Küche, die man nie mehr vergisst.

Veröffentlicht: 2014

Franziska Hidber

Redaktorin Nordland-Magazin

Der Norden hat das Herz von Franziska Hidber, Redaktorin und Reporterin des Nordland-Magazins, im Sturm erobert. Über dem Polarkreis fühlt sich die «Lapinhulla» (Lapplandverrückte) schon wie daheim.

«Aha, Estland», sagt die Angestellte am Checkin-Schalter, während sie den Gepäckcode ausdruckt, «kann man da Ferien machen?» Gute Frage. Sehr gute Frage sogar. Genau deshalb fliegen wir in den nördlichsten der drei baltischen Staaten. Wir, das sind Elisa, meine 14-jährige Tochter, Assistentin, Hobby-Fotografin und Navigatorin in Personalunion, und ich. Wir wollen wissen, ob Estland als Feriendestination taugt. Wir wollen ein Land kennen lernen, das bis 1991 unter dem Regime der Sowjetunion stand. Und wir wollen testen, wie dieses Estland uns schmeckt, und vor allem: Ob die typische estnische Küche uns schmeckt. «Die typische estnische Küche gibt es nicht», sagt Nele Võsu.

Nele ist waschechte Estin und unser Guide auf der Food-Sightseeingtour durch Tallinn. Wir sitzen im ersten Stock im «Peppersack», dem traditionsreichen Gasthaus aus dem 15. Jahrhundert mitten in der Altstadt. Hier erlebt das Mittelalter seine Renaissance: Die Speisen nach mittelalterlichen Rezepten sind ebenso beliebt wie die allabendlichen Schwertkämpfe. Wo vor sechs Jahrhunderten rege mit Pfefferkörnern gehandelt wurde, kosten wir eine hausgemachte Kürbissuppe und schauen dabei auf das Treiben in den Gassen Tallinns, Weltkulturerbe seit 1997. Nele schiebt uns den Brotkorb hin: «Da, probiert. Wenn etwas typisch für unsere Küche ist, dann das estnische Schwarzbrot. Aber ich warne euch: Es macht süchtig.»

 

Der Küchen-Revolutionär

Schon nach dem ersten Bissen wissen wir, weshalb: Das dunkle Brot ist ungewöhnlich würzig und kräftig. Mit der cremigen Butter, die hier zu jedem Essen in kleinen Holztöpfen gereicht wird, ein Gedicht. «Glaubt mir, ihr werdet es in der Schweiz vermissen», prophezeit Nele und erklärt, wieso es die typische estnische Küche so nicht gibt: «Wir standen zu lange unter fremder Herrschaft, und alle haben ihre kulinarischen Spuren hinterlassen: die Dänen, die Schweden, die Deutschen, die Russen. Die Kartoffel etwa ist heute aus der estnischen Küche nicht mehr wegzudenken, dabei hatte sie vor 150 Jahren einen schweren Start.» An diesem Nachmittag degustieren wir uns durch Randen-Chutney, Tomaten- und Zwiebelkonfitüre, Butter mit wildem Knoblauch von der Insel Saaremaa und Schwarzbrot in Baguetteform. Sie alle tragen das Label «Gourmet Club» und kommen einer kleinen Revolution gleich. Der Revolutionär heisst Imre Kose; mit seinen waghalsigen Kombinationen hat der Fernsehkoch und Kochbuch-Autor die estnische Küche gehörig auf den Kopf gestellt: «Er ist quasi unser Jamie Oliver», sagt Nele und lacht. «Imre Kose hat uns das Selbstbewusstsein zurückgegeben. Er sagt: ‹Hey, Estland hat wunderbare frische und schmackhafte Produkte aus dem Meer, dem Wald, dem Garten, der Landwirtschaft. Nutzt sie, macht etwas daraus, kombiniert sie neu.›» Ihr gefällt, wie sich Estland kulinarisch zurück zu den Wurzeln bewegt und gleichzeitig die Etikette «Deftige-arme-Leute-Küche» abstreift. Und wir ahnen: Estland wird uns schmecken.

Zwischen Traditionen und Trend

Allein Tallinn. Die besterhaltene mittelalterliche Stadt Europas vereint, was Gourmets aus aller Welt schätzen; und sie spiegelt, was die Esten so meisterhaft beherrschen: die elegante Kombination von Traditionen und Trends. Das Angebot reicht von mittelalterlichem Genuss – wie etwa im «Peppersack» – bis zur modernen Küche, von estnischen Spezialitäten über internationale Delikatessen bis hin zum hippen veganen Restaurant, das ständig ausgebucht ist. Aufgrund seiner schicken Cafés und trendigen Bars wird Estland auch gerne «Paris des Ostens» genannt. Und während wir uns zwischen mittelalterlichen Stadtmauern und Wehrtürmen fragen, ob hier die Elektrizität schon erfunden wurde, erhalten wir zwei Häuser weiter die Speisekarte auf dem iPad. «O ja, das ist so typisch», meint Nele. Kürzlich habe sie mit ihrem Freund campiert, an einem See, irgendwo im Nirgendwo. «Mein Freund wollte fischen und brauchte für diesen See ein Patent. Das hat er dann via App innert Kürze erhalten. Wir sind einfach gern online – ob beim Fischen, Pilze sammeln oder Beerensuchen auf dem Land.»

 

Das Land. Dieses Nirgendwo, diese Seen, diese Wälder – dort wollen wir hin, konkret: zum Nationalpark Lahemaa im Nordosten, was übersetzt «Land der Buchten» heisst und 700 Quadratkilometer unberührte Natur verspricht. Kaum haben wir Tallinn hinter uns gelassen, wird das Fahren im Mietauto zum entspannten Vergnügen. Denn Estland, so gross wie die Schweiz, zählt gerade mal 1,3 Millionen Einwohner, und davon lebt ein Drittel in Tallinn. «Dichtestress» ist ein Wort, das hier garantiert keiner kennt. Das gilt erst recht für die Strassen. Kein Stau, kein Gedränge, kein Gehupe. Stattdessen links und rechts: Wald, Wald, Wald, endloser Wald. Felder und Weiden, Pferde und Kühe. Ab und an stakst ein Storch durch die Blumenwiesen, die so artenreich sind wie bei uns allenfalls im Engadin.

Wandern im Moor

Kunststück: Dreiviertel des Landes besteht aus Natur, die Hälfte ist Wald, ein Viertel Moor, und davon gibt es auch im ersten und grössten Nationalpark Estlands reichlich, wie wir am nächsten Tag erfahren, pardon, erwandern. «Moorwanderungen sind grossartig», schwärmt Evi Aluoja, und ihre Augen blitzen unternehmungslustig. Sie nimmt uns mit auf den knapp sechs Kilometer langen Lehrpfad im Hochmoor Viru. Hier kennt die Lehrerin und Wanderleiterin jeden Baum, jede Blume, jeden See, jede Vogelart. «Schaut, reife Heubeeren», ruft sie, «und dort drüben: Moosbeeren.» Wir folgen ihr auf dem breiten Brettersteg. Evi zeigt uns die Rosmarinheiden und die Flechten, den Sonnentau und das Knabenkraut, sie schwärmt von den Waldhyazinthen und den weissen Callas. Wir atmen die würzige Luft ein und geniessen die Weite, während die weissen Wolken am blauen Himmel immer neue Formationen zaubern. Der Rundum-Ausblick vom Aussichtsturm ist eine einzige Symphonie in Grün und Blau, die Bäume spiegeln in den unzähligen Seen, die Wolken sowieso, und irgendwo, weit hinten am Horizont, scheint der Bretterweg direkt in den Himmel zu münden. Evi, die Naturfreundin, hat hier oben schon übernachtet: «Das ist wunderbar. In der Dämmerung, die im Sommer erst um Mitternacht einsetzt, kommen die Elche, Rothirsche, Füchse, sogar Fuchsmarder habe ich gesehen.» Etwas weiter vorne baden junge Leute im kleinen See mit Badesteg. «Kommt rein», ruft uns ein Mann zu, «das Wasser ist angenehm warm», aber wir haben keine Badesachen dabei.

Wie auf den Seychellen

Zum Baden reicht es an diesem Tag doch noch. In Võsu, dem angesagten Badeort in Lahemaa, auf einer Landzunge der Nordküste, machen viele estnische Familien Sommerurlaub – und trotzdem ist der lange Strand fast leer. Ein paar Kinder spielen im Wasser, ein paar Mütter plaudern, ein paar Väter lassen einen Drachen steigen. Wir laufen über den weissen, feinen Sand, lassen den Wind durch die Haare wehen, geniessen die Farbpalette der Ostsee von Türkis bis Dunkelblau, fast wähnen wir uns auf den Seychellen. Und während wir nachher so daliegen und die Sonne und die Stille aufsaugen, posten meine Freunde auf Facebook Bilder vom Stau am Gotthard oder penible Liegestuhlreihen am Mittelmeer, und um nichts in der Welt würden wir tauschen wollen mit der Weite und der Ruhe hier. Schöner ist es vielleicht nur noch in «unserer» Bucht im kleinen Fischerdorf Altja etwas weiter südlich, wo die Zeit stehen geblieben scheint. Unzählige Findlinge in allen Grössen und Formen liegen da, sie stammen noch aus der Eiszeit. «Die hat Finnland uns netterweise rübergeschickt», erklärte uns Evi heute mit einem Augenzwinkern, «deshalb ist es für uns in Ordnung, wenn unsere Küste ‹Finnischer Meerbusen› heisst». Nun ahnen wir auch, weshalb die Gegend an der Nordküste so skandinavisch anmutet, falunrote Sommerhäuschen inklusive.

Später sitzen wir an einem der langen Holztische von Altja Körts (Körts für Beiz) im Freien, und während die Abendsonne die grosse Wiese vor uns in goldenes Licht taucht, essen wir roten Fisch (heute gefangen), liebevoll arrangiert auf einem Gemüsebeet (heute geerntet), Salat (nochmal heute geerntet), dazu dieses unvergleichliche Brot mit Butter, und ich bin sicher, Imre Kose hätte seine helle Freude gehabt.

 

Wir verlassen den Nordosten und fahren diagonal durchs Land nach Südwesten. Stellen Sie sich die Strecke Romanshorn-Genf vor, einfach ohne Stau und nur mit einer einzigen, klitzekleinen Baustelle. Nach knapp drei Stunden erreichen wir Pärnu, die Sommerhauptstadt an der Westküste. Wenn Tallinn das Paris des Ostens ist, dann müsste Pärnu Saint Tropez sein: Seit jeher gehört es zum guten Ton, durch das elegante Seebad an der Ostsee zu flanieren, am breiten Strand zu baden oder sich einer der legendären Schlammkuren hinzugeben. Wellness hat in Pärnu – und in ganz Estland – eine lange Tradition, SPAs gehören hier seit jeher zum Angebot und Saunas sind so selbstverständlich wie in Finnland. Wir aber fühlen uns bereits nach wenigen Tagen in Estland so tiefenentspannt, dass wir auf das Wellnessangebot verzichten. Stattdessen setzen wir an der Westküste mit der Fähre nach Muhu über, der vorgelagerten kleinen Schwester-Insel von Saaremaa – und landen direkt im Paradies.

Pfannen statt Paragraphen

Das Paradies ist in diesem Fall das Gästehaus und ehemalige Bauerngut Nautse Mihkli Talu. In der grosszügigen, modern ausgebauten Küche steht Ingrem Raidjõe neben Körben voller Pfifferlinge, grünen und gelben Zucchetti, kleinen Randen und jungen Kartoffeln, und überstrahlt alles mit ihrem Lachen. Denn Ingrem hat sich verliebt, als Elfjährige schon. Verliebt in dieses Fleckchen Erde auf Muhu. Damals kauften ihre Eltern das Haus gleich nebenan, zunächst als Sommer-, später als Wohnsitz. Vor einem Jahr, Ingrem war längst selber Mutter, hat sie mit ihrer Familie den Bauernhof mit dem für Muhu typischen Strohdach in direkter Nachbarschaft gekauft, liebevoll restauriert und zum Gästehaus ausgebaut. Hier frönt die Juristin, die lieber mit Pfannen als Paragraphen hantiert, ihrer grössten Leidenschaft: der einheimischen Küche, dem Kochen und Bewirten von Gästen, dem Leiten von Kochkursen, dem Organisieren von Events auf dem Hof. Auf den Tisch kommt selbst erlegtes Wild oder Straussenfleisch von der elterlichen Farm, Gemüse aus dem eigenen oder elterlichen Garten, Pilze aus dem Wald, Fische aus der lokalen Fischerei – Slow-Food heisst der neue Begriff dafür.

Doch davon spricht Ingrem nie, während sie exklusiv für uns die Sauce für die Pfifferlinge aufkocht und die Babykarotten glasiert, mit schnellen, routinierten Handgriffen und einer unbändigen Lust am Tun.

Exklusiv für uns ist auch der kleine Tisch auf der grossen Wiese im Hof gedeckt, es gibt eine Häckeldecke und frische Wiesenblumen darauf, und es ist, als wären wir bei einer Freundin zu Besuch, so heimisch fühlen wir uns auf Anhieb auf diesem Anwesen, das an Bullerbü erinnert. Ingrem Raidjõe freut sich über unseren Enthusiasmus, bleibt aber – Verliebtheit hin, Traum her – auf dem Boden: «Das ist erst meine erste Saison hier, ich weiss noch nicht, wie sich das Ganze entwickelt.»


Das Geheimnis des Küchenchefs

Auf wesentlich mehr Saisons blickt das Pädaste Manor auf Muhu zurück. Das luxuriöse Hotel und Spa liegt direkt an der Baltischen See und ist eines der zahlreichen historischen Hotel-Herrenhäuser in Estland, aber das einzige mit fünf Sternen. Unten an der eigenen Badebucht, wo die Gäste ins gewärmte Wasser springen oder in Vollmondnächten zur «Insel of Love» rausgefahren werden, steht Yves Le Lay und pflückt wilden Koriander, der hier gedeiht wie anderswo Unkraut. Er reibt die Pflanze zwischen Daumen und Zeigefinger: «Riechen Sie mal. Unverschämt gut, oder?» Das fragt einer, der unverschämt gut kocht. Yves Le Lay ist Chef de Cuisine im hauseigenen Restaurant Alexander, das heuer zum vierten Mal in Folge zum besten Restaurant Estlands gekürt wurde. Was ist sein Geheimnis? Er lacht: «Geheimnis würde ich es nicht nennen. Was wir tun, ist im Prinzip simpel: Wir setzen auf frische Zutaten von der Insel oder aus dem Meer.» Le Lay nennt es die «nordische Inselküche» und umschreibt mit dem Arm den Herrschaftssitz aus dem 16. Jahrhundert mit dem riesigen Park. Um anzufügen: «Vielleicht ist das der Unterschied: Wir gehen nicht hin und schauen, was andere Fünfsterne-Häuser tun. Wir gehen hin und schauen, was unsere Insel bietet.» Es ist die gleiche Philosophie, die auch Ingrem beherzigt. Imre Kose sowieso. Selbst Nele kocht ihre Konfitüre wieder selber – nach dem Rezept ihrer Grossmutter. Gut möglich, dass darin das Geheimnis liegt, wieso Estland sich zur Genuss-Destination entwickelt hat: Die Menschen hier kopieren nicht irgendwelche Erfolgsrezepte, sie besinnen sich auf ihre eigenen Schätze und reichern ihre Traditionen virtuos an – in der Küche, im SPA und den Gästehäusern, ob Bauern-, Gutshof oder Herrenhaus. Und sie tun es auf eine sympathisch unaufgeregte Art. Die lauten Töne liegen den Esten ohnehin nicht. Sie sind angenehm zurückhaltend, aber freundlich. Diskret, aber hilfsbereit.

Als wir einige Tage später in Zürich landen, werden wir jäh aus unserem Slow-Motion-Modus gerissen. Woher kommen plötzlich diese vielen Leute? Wieso reden sie so laut und so viel? Und weshalb ist es schon dunkel? Am Check-in ist noch ein einziger Schalter geöffnet, «unsere» Angestellte ist nicht da. Schade, schade. Denn nebst drei Schwarzbroten haben wir eine Antwort auf ihre Frage mitgebracht. Sie besteht aus genau fünf Buchstaben und zwei Wörtern: Und ob.



Estland in Zahlen

  • 1,36 Millionen Menschen leben in Estland, ebenso viele Theatertickets werden jährlich verkauft.
  • 405 000 Einwohner zählt die Hauptstadt Tallinn. Von den 45000 km2 Fläche sind fast die Hälfte Wald und ein Viertel Moor.
  • Auf 1 km2 kommen nur 29 Einwohner (Schweiz: rund 200).
  • 3800 Kilometer misst die Küstenlinie.
  • Von 1521 Inseln sind 10 bewohnt, die grösste ist die Ferieninsel Saaremaa.
  • Der längste durchgehende Wanderweg misst 370 Kilometer.
  • 340 Vogelarten sind registriert worden, darunter 70 seltene Arten.
  • Der höchste Berg ist 318 Meter niedrig.
  • Über 200 Festivals finden pro Jahr statt.
  • 99 Prozent des Landes sind mit einem schnellen 4G-Netz abgedeckt, ein kostenloser Internetzugang gehört zu den Grundrechten.
  • 46 Säugetier-Arten leben in der dünn besiedelten Natur: Elch, Wolf, Luchs, Braunbär, Biber, Marder und sogar Flughörnchen finden in den taiga-artigen Wäldern und endlosen Regenmooren perfekte Bedingungen.
  • 15 Prozent der Landwirtschaftsfläche ist ökologisch zertifiziert – ein Spitzenwert in Europa.
  • 5 Nationalparks bieten seltenen Vogelarten und Wildtieren nahezu unberührten Lebensraum.
  • 2,5 Stunden dauert die Überfahrt mit der Fähre von Tallinn nach Helsinki.

 


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