Nordisland

Wie auf einem anderen Planeten

Das ist die Geschichte einer Winterreise in Nordisland. Sie führt – immer knapp unterhalb des Polarkreises – von runden Kratern in einer bizarr anmutenden Mondlandschaft bis zu spitzen Schneebergen; von einer Welt in die andere und in magische Gefilde.

Veröffentlicht: 2023

Der Norden ist freundlich. Er holt sein schönstes Blau an den Himmel und dreht die Sonne bis zum Maximum auf. Beim Anflug rotieren die Räder der kleinen Icelandair-Maschine über dem glitzernden Eyafjörður, bevor der Flieger auf der Landebahn direkt am Wasser in Akureyri aufsetzt. «Velkomin in Nordisland », sagt Hjalti und blinzelt in die Sonne, «der Norden ist manchmal der bessere Süden.»

 

Franziska Hidber

Redaktorin Nordland-Magazin

Der Norden hat das Herz von Franziska Hidber, Redaktorin und Reporterin des Nordland-Magazins, im Sturm erobert. Über dem Polarkreis fühlt sich die «Lapinhulla» (Lapplandverrückte) schon wie daheim.

Hjalti muss es wissen. Erstens ist der Projektmanager von Visit North Iceland hier in der Region aufgewachsen und zweitens musste er auf mich warten. Denn Reykjavík, wo ich herkomme, erlebt gerade einen Nonstop-Schneefall, und es dauerte eine Weile, bis das Flugzeug abheben konnte, mitten in den weissen Vorhang hinein. «Meine Wetter-App sagt, dass der Schneesturm heute Abend auch im Mývatn-Gebiet toben wird», sage ich, typisch besorgte Touristin. Hjalti lacht herzlich: «Keine App kann mit unseren Wetterwechseln hier mithalten. Viel wichtiger ist die App mit den Informationen über die gesperrten Strassen. Der isländische Winter ist eine Wundertüte. Góð ferð, gute Fahrt, du wirst es lieben!»

Ein Schauspiel nur für mich

Ich nehme seinen Optimismus mit auf den Weg und fahre ostwärts Richtung Mývatn, zum legendären Mückensee im vulkanisch aktiven Gebiet, wo besonders viele Elfen, Trolle und das verborgene Volk in den Lavagebilden wohnen sollen. Die Spikes surren, der Wagen rollt, und nach dem Tunnel gleite ich an diesem Nachmittag im Februar allein auf weiter Flur über die Ringstrasse, die sich einer schwarzen Schlange gleich durchs weite Weiss windet. Alles wirkt ruhig und still, aber das ist ein Trugschluss. Spätestens, als ich auf der hufeisenförmigen Klippe des Goðafoss stehe, dem Götterwasserfall, beisst der Wind heulend in meine Wangen.

Ich nehme ihn kaum wahr, so sehr zieht mich das Schauspiel in seinen Bann: Zwischen riesigen Eiszapfen, die bis 17 Meter tief in die Schlucht hängen, donnert das Wasser kaskadenartig ins flaschengrüne Becken. Ich erinnere mich, wie ich mir hier einmal im Sommer meinen Weg durch die Schaulustigen bahnen musste. Heute steht das Kontrastprogramm an: Der Schnee hat die Landschaft in Watte gepackt, die Eisformationen geben dem 30 Meter breiten Wasserfall ein geheimnisvolles Aussehen, die untergehende Sonne hüllt die weissen Bergrücken in ein goldenes Licht, und ausser des Tosens ist kein Laut zu hören. Ich bin das Publikum, der Goðafoss zelebriert seine ganze Magie exklusiv für mich.

Der Ursprung des Namens

Das hat etwas Göttliches, doch der Name stammt nicht daher. Sondern, so wird es erzählt, von der Kristni-Saga: Im Jahr 1000 hatte der Häuptling Thorgeir als Gesetzessprecher auf der Thing- sitzung für die Annahme des Christentums als offizielle Religion gesorgt. Nach dieser Sitzung soll er erleichtert sämtliche Götzenbilder hier in den Wasserfall geworfen haben.

«Der Godafoss zelebriert seine Magie nur für mich.»

Schon schwappt der späte Nachmittag in den frühen Abend, und für Mitte Februar ist es hier am 65. nördlichen Breitengrad noch erstaunlich hell, selbst nach Sonnenuntergang. Die blaue Stunde macht ihrem Namen alle Ehre, die Mondsichel leuchtet bereits. Noch 50 Kilometer liegen vor mir, das ist normalerweise wenig, aber im nordisländischen Winter gelten andere Regeln für Distanzen. Bereits schickt der Wind Schneeverwehungen übers Land, am Himmel ziehen rosa Schleierwolken ihre Bahnen, ich folge der Strasse und mir ist, als würde ich als erster Mensch überhaupt in dieses Gebiet vorstossen.

Majestät und Königin

Plötzlich taucht er aus dem Nichts auf. Majestätisch erhebt er sich 160 Meter von der Ebene, und fast hätte ich ihn im Winterkleid nicht mehr erkannt. Halló Hverfjall, du Wahrzeichen des MývatnGebiets! Der Tuffring gehört zum Vulkansystem der Krafla und zählt zu den grössten und schönsten Kratern der Welt, entstanden ist er vor rund 2800 Jahren bei einer Wasserdampfexplosion, als heisses Magma auf Grundwasser gestossen ist. Ich fahre direkt auf ihn zu, und das Schneetreiben setzt freundlicherweise erst ein, als ich in Reykjahlíð, dem einzigen Örtchen an der Ostseite des Sees, im Mývatn – Berjaya Iceland Hotels einchecke. Von meinem Bett aus sehe ich aus dem linken Fenster direkt auf den Hverfjall, rechts grüsst, mindestens so majestätisch, die Herðubreið, 1682 Meter hoch, eine Schönheit in Form eines Tafelvulkans und von den Isländern auch «Königin der Berge» genannt. Góða nótt!

«Wir nennen es Fensterwetter», sagt der freundliche Rezeptionist am nächsten Morgen. Oh ja. Es klingt verlockend, das isländische Wetter vom Sofa aus in meiner behaglichen Suite zu erleben. Noch verlockender ist allerdings Antons Angebot, mit Geo Travel Iceland das Mývatn-Gebiet in der Kleingruppe zu erobern. Winddichte Jacke anziehen und los!

Höllenfeuer unter der Erde Wir wandern durch die surreal anmutenden Lavagebilde von Dimmuborgir, den dunklen Burgen. Hier leben Elfen, Trolle, das verborgene Volk und unzählige Fantasie- und Fabelwesen. «Ihr müsst nur genau schauen», fordert uns Guide Trausti auf, und tatsächlich: Vom schlafenden König bis zum Einhorn sehen wir beinahe alles. Nur die dreizehn Weihnachtsgesellen lassen sich nicht blicken. «Glaubt mir, diese gruseligen Kerle wollt ihr gar nicht sehen», ruft Trausti und fügt an: «Und noch weniger Grýla, ihre hässliche Troll-Mutter, die» – Trausti macht eine Kunstpause – «Menschen in ihren riesigen Töpfen kocht.» Betretenes Schweigen. «Wenn es in Island einen Vulkanausbruch gibt, stammt es von ihrem Höllenfeuer in der unterirdischen Küche», setzt Trausti noch eins drauf. «Die Isländer sind wirklich verrückt», kichert mir Marie aus Frankreich ins Ohr. So verrückt wie diese surreal anmutende Landschaft. Wir laufen über verschneite Pseudokrater, schnuppern den Geruch nach fauligen Eiern aus den brodelnden Töpfen am Rand des geothermalen Vulkangebiets Krafla, kraulen stoisch kauende Islandpferde, klettern hinunter zum Höhlensee in der Felsspalte Grjótagjá und ziehen unsere Spur mit den Schneeschuhen am Ufer des Mückensees.

«Alles wirkt ruhig und still, aber das ist ein Trugschluss.»

Der Mückensee – ein Filmstar

Der viertgrösste See Islands ist ein Filmstar, hier wurden Szenen von «Game of Thrones» und «Fast and Furious» gedreht. Auch der Mückensee ist das Resultat eines Vulkanausbruchs, korrekter: zweier Vulkanausbrüche. «Im Sommer sind hier unzählige Ornithologen unterwegs», erzählt Trausti. Er selber möge den Winter lieber: «Es ist dann so viel ruhiger.» Das stimmt. Ausserdem ist es einfach schöner, sich im lagunenartigen Naturbad vom 40 Grad warmen türkis-milchigen Wasser umspülen zu lassen, wenn man den Platz kaum teilen muss und einem dabei Schneeflocken auf die Nase fallen.

Am letzten Morgen erklimmen wir in der Frühe den Hverfjall. Der Weg ist steil, aber kurz. Vom Kraterrand aus sieht die Landschaft noch unwirklicher aus als sonst: die Dämpfe und die blubbernden Töpfe, die Schicht aus Puderzucker, die Pseudokrater, der zum Teil gefrorene See. Als der erste Sonnenstrahl über den Horizont kommt, schweigen wir ergriffen. «Unglaublich. Befinden wir uns hier überhaupt noch auf der Erde?», fragt Lars neben mir. Der Niederländer kam auf Drängen seines Freundes mit nach Island, obwohl ihm südlichere Gefilde vorgeschwebt hatten. Niemand lacht. Die Frage lag uns allen auf der Zunge.

Es kostet mich Überwindung, die magische Mondlandschaft im Winterkleid westwärts zu verlassen. Akureyri, die Hauptstadt des Nordens mit ihren knapp 20 000 Einwohnern, stimmt mich versöhnlich mit einem wiederum stahlblauen Himmel. Übertroffen wird die Farbe nur noch vom 60 Kilometer langen Eyafjörður. Wir tuckern weit hinaus mit dem Boot, Nebelschwaden ziehen vorbei, wie eine senkrechte, weisse Wand taucht die Insel Hrísey vor uns auf, ein Gefühl von arktischer Expedition macht sich breit. «Die letzten Tage waren die Wale immer hier hinten zu sehen», sagt unser Guide. Heute haben die Meeresgiganten anscheinend keine Lust, sich zu zeigen. Dafür begleitet ein kleiner Delfinschwarm unser Schiff und entzückt uns mit anmutigen Sprüngen.

Erfüllt von diesem Erlebnis und mit roten Wangen sitze ich wieder im Auto. Jetzt geht es auf dem Arctic Coast Way dem Eyafjörður entlang nach Siglufjörður, der nördlichsten Stadt Islands. Das Tal wird schmäler, verschneite Fischerdörfchen säumen die Route. Zu meiner Linken wachsen die Schneeberge immer höher in den Himmel, rechts unten glitzert der Fjord. Ich fahre durch abenteuerlich beleuchtete einspurige Tunnels. Doch kurz darauf folgen die beiden hellen, neuen Tunnels mit Baujahr 2006 ab Ólafsfjörður – sie sind Teil der Wende nach der Krise, die Siglufjörður, einst gefeierte Heringstadt, erlebt hat. Damals, 1969, als die Heringströme plötzlich ausgeblieben sind.

Aus dem Dornröschenschlaf geküsst

Am Hafen ist das Siglò-Hotel hell erleuchtet. Im Hot Pot sitzen einige Erwachsene, Kinder haben ein riesiges Iglu gebaut. Es sind Skiferien in Island, das Siglò, einst ein marodes Hafengebäude, ist ausgebucht. Die Tunnels und das Siglò haben das Fischerstädtchen aus dem Dornröschenschlaf geküsst. Längst gilt Siglufjörður, zwischen zwei steilen Bergketten an der Spitze der Halbinsel Tröllaskagi gelegen, als Hotspot für Ski- und Snowboardfans. «Die beste und längste Freestyle-Piste Islands ist hier», schwärmt Jon. Er ist extra aus Reykjavík hergefahren. In diesen zwei Tagen, bei Tiefschnee und Bilderbuch-Wetter, scheint das schmucke Örtchen direkt einem Winterprospekt entsprungen zu sein. 

«Es kostet mich Überwindung, die magische Mondlandschaft zu verlassen.»

Kaum zu glauben, dass die alpine Szenerie nicht einmal 200 Kilometer von der Mondlandschaft entfernt ist.

Kreative Einheimische

Neben den Pisten locken bunte Restaurants, Cafés und die Bierbrauerei «Segull 67». Hier braut Marteinn Marteinsson in der ehemaligen Fischfabrik das nördlichste Bier der Insel und er brennt bald auch Schnaps, ausserdem bietet er Führungen und Team-Events an. Einheimische wie er haben Siglufjörður mit kreativen Ideen neu belebt. Die Goldgräberstimmung aus der Blüte der Heringjahre im letzten Jahrhundert kann im Heringmuseum eins zu eins erlebt werden.

Es ist das einzige Museum in ganz Island, das mit einem europäischen Award dotiert ist. Die Rückfahrt direkt in den Sonnenaufgang Richtung Akureyri, zwischen Wasser und Felsflanken, gehört zu den schönsten Fahrten meines Lebens überhaupt. In Akureyri treffe ich im Kunstmuseum auf die isländische Mona Lisa, das berühmteste Werk des Malers Jóhannes S. Kjarval – es zeigt nicht etwa eine lächelnde Frau, sondern die Natur im Nationalpark Thingvellir im Süden. Island ist auch in künstlerischen Belangen eine Wundertüte. Als das Flugzeug von Icelandair mit Getöse abhebt und den Eyafjörður Meter um Meter unter sich lässt, kneife ich die Augen zusammen, weil die Sonne so sehr blendet. Hjalti hatte recht: Manchmal ist der Norden der bessere Süden.


Reykjavíks kleine Schwester

Man nennt sie auch «Perle des Nordens»: Akureyri, die Hauptstadt von Nordisland, steht zu Unrecht im Schatten von Reykjavík. Zwar ist hier alles etwas kleiner, inklusive der Kirkja – der Sandsteinbau trägt wie die Hallgrímskirkja die Handschrift ihres Schöpfers Guðjón Samúelsson. Doch das Angebot an Museen, kreativen Cafés, Restaurants und Läden in der charmanten Kleinstadt kann sich sehen lassen – es lohnt sich, genügend Zeit einzuplanen. Und beinahe hofft man auf Schmuddelwetter, um in Musse durch die Museen zu streifen; erwähnt seien hier das Kunstmuseum (isländische und internationale Kunst), das Regional- und Stadtmuseum sowie das Nonnahús, wo Autor Jón Sveinsson aufgewachsen ist.

www.minjasafnid.is


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